Dem schleichenden Prozess widerstehen
Kürzlich hatten wir Besuch von einem deutschen Ehepaar, das im Ausland lebt. Einmal im Jahr besuchen sie Verwandte in Deutschland. Als sich das Gespräch auf die politischen Entwicklungen in Deutschland richtete, war ich zuerst erstaunt, wie die beiden ihre Umgebung wahrnehmen. „Die Stimmung der Menschen hat sich im Vergleich zum Besuch im letzten Jahr stark verändert. Beim Spaziergang durch die Innenstädte in Köln, Bonn und vor allem in Euskirchen ist Wut, Hass und Fremdenfeindlichkeit regelrecht spürbar. Gesprächsfetzen, die ich mitbekomme, haben Inhalte wie Flüchtlinge, Ukraine, raus aus Deutschland und Worte, die ich definitiv nicht wiederholen möchte. Was ist nur los in Deutschland, habe ich mich
gefragt“, erzählte Doris uns. Mein Erstaunen wandelte sich in Erschrecken!
Es hat mir keine Ruhe gelassen und ich habe mich intensiver mit dem Thema beschäftigt. Jetzt möchte ich Sie mitnehmen auf meinen Weg der Erkenntnis, dass wir alle es ohne großen Widerstand zulassen, dass sich demokratieverachtendes Gedankengut schleichend etabliert.
Menschenverachtende Symbolik
Ich bin überzeugt, dass Social Media und die damit verbundenen Möglichkeiten der Fake-Profile, die nicht zugeordnet werden können, einen großen Anteil an diesem schleichenden Prozess haben. Themenauswahl der Gruppenadmins und Wortwahl in den Posts können dazu führen, dass eine Wahrnehmungsblase entsteht. Fans und Followers zu generieren steht bei diesem Vorgehen sicherlich an erster Stelle, macht es aber keineswegs vertretbar. Glücklicherweise gibt es noch Menschen, auch Gruppenadmins, die sich kritisch mit der Thematik auseinandersetzen. Ich bedanke mich bei Hans-Peter Bergmann, der in seiner Gruppe „Leben in Weilerswist“ auf eine Wahlwerbung der Partei „Alternative für Deutschland“ aufmerksam gemacht hat, deren Symbolik mich frösteln lässt.
Begleitet von den Worten:
… „Verheerend allerdings die gewählte Symbolik:
Ein Wimpel, ein auf der Spitze stehendes Dreieck in Regenbogenfarben,
darin die Symbole für männlich, weiblich oder beides.
Inzwischen schon lange vergessen:
Genau solche Wimpel nähten die Nazi-Chargen
den KZ-Häftlingen an ihre Hemden und Jacken.
Bekannt sind heute meist nur noch die rosa Wimpel für Homosexuelle.
Dieses Zeichen ist bestimmt kein Zufall,
auch mehr als nur eine bloße Geschmacklosigkeit,
sondern eine Ankündigung, eine blanke Drohung
unter Rückgriff auf die Symbolik der Nazi-Verbrecher.
Wie sollen die Bedrohten das anders verstehen?
Wo ist die Staatsanwaltschaft, die eine solche Hetze verhindert?“
Neben diesem positiven Beispiel des Auseinandersetzens mit demokratieverachtendem Gedankengut gibt es leider genügend negative.
Anderenorts wird gehetzt, gestänkert und aufgewiegelt – fernab jeder sachlichen Diskussion sind die „Schuldigen“ sehr schnell gefunden. Mir ist in der gesamten Geschichte der Menschheit noch keine Situation begegnet, in der diese Art des Populismus‘ ein Problem gelöst hätte. Ganz im Gegenteil: Populismus löst fernab von Sachzusammenhängen menschenverachtende und demokratiefeindliche Gefühle aus. Sachliche Diskussionen, erörtern von Möglichkeiten und das Aufzeigen von Lösungsansätzen dagegen können so viel mehr bewirken. Dass es beispielsweise für das Asylsystem oder zum Thema Einwanderung eine neue Herangehensweise bedarf, steht außer Frage. Doch das wie ist entscheidend.
Anderes Beispiel: Sternchen, Doppelpunkte oder Querstriche um alle Personengruppen in einem Text einzubeziehen, mag nicht allen gefallen. Daraus eine Wahlwerbung mit offensichtlichem Bezug zur Nazizeit zu machen, macht mich fassungslos. Ich frage mich: Wo bleibt der Aufschrei in der Bevölkerung?
„Posttraumatische Belastungsstörung“ der Gesellschaft
Ist es wirklich so, wie Klaus Hurrelmann, einer der angesehensten Soziologen in Deutschland, es beschreibt: Die Gesellschaft leidet unter einer „posttraumatischen Belastungsstörung“. In einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt er, dass alle Bevölkerungsgruppen unter den Spätfolgen der Corona-Pandemie, unter der Belastung durch den russischen Angriffskrieg und an den Ängsten, die Klimawandel sowie Migration auslösen, leiden. Den Menschen sei die Lebensorientierung abhandengekommen. Klaus Hurrelmann kann sich vorstellen, dass dies der Nährboden für die AfD ist, um sich als „Kümmerer in unsicheren Zeiten aufzuspielen“. Politikredakteur Carsten Fiedler, Kölner Stadt-Anzeiger, ist der Meinung: „Nach der Sommerpause muss ein politischer Neustart her. Olaf Scholz und sein Kabinett müssen endlich zu einem Politikstil finden, der die Bürgerinnen und Bürger auch emotional erreicht und ein Gefühl von „Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit“ (Hurrelmann) vermittelt.“ Die „posttraumatische Belastungsstörung“ wäre eine Erklärung, aber reicht es wirklich aus, wenn Politiker sich ändern? Sollte nicht jede Frau und jeder Mann beim nächsten Kommentar – ob in Social Media oder auf der Straße – erst überlegen, wie sich Gesagtes oder Geschriebenes auswirkt? Dem Drang, Schuld zuzuweisen widerstehen?
Demokratie ist ein hohes Gut, das sich unsere Eltern wieder erkämpft haben. Wollen wir alle das wirklich aufs Spiel setzen?
Gerhart Baum mahnt
Lassen Sie mich mit der Warnung von Gerhart Baum abschließen. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den FDP-Politiker und früheren Innenminister mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern ehrte, mahnte Gerhart Baum, dass die Demokratie in Gefahr sei. 1930 hätten viele die Nazis gewählt und hinterher behauptet, man habe ja nicht damit rechnen können, dass sie die Demokratie abschafften. Das müssten die wissen, die jetzt aus Protest eine Partei wählten, die ihrerseits die Demokratie kaputtmachen wolle.
Gefährliche Normalisierung
Nachdem ich meine Gedanken niedergeschrieben hatte, kam noch etwas hinzu: „Friedrich Merz ist wieder einmal über ein Stöckchen gesprungen und kräftig auf die Nase gefallen“, schreibt Politikredakteurin Kristina Dunz im Kölner Stadt-Anzeiger. Übertitelt war ihr Meinungsbericht mit „Gefährliche Normalisierung“. Das trifft es meines Erachtens zu 100 Prozent. Vor allem, wenn ich mir in der Folge seiner Äußerungen im ZDF-Sommerinterview die Fotos zu seinen „Ruderversuchen“ anschauen musste.
Zu sehen waren plakativ und in stiller Eintracht die Logos von CDU und AfD neben Friedrich Merz. Da bekommen die Fragen der Redakteurin noch mehr Gewicht:
„Demokraten arbeiten mit Antidemokraten zusammen, weil die Wahl demokratisch war? Die CDU versucht nicht, den Gewöhnungsprozess an solche Wahlergebnisse zu hinterfragen, die AfD inhaltlich zu entblößen und mit eigenen Themen gegenzuhalten? – Das politisch wirklich gefährliche verliert Merz aus den Augen: die Normalisierung der AfD.“
Als parteilose Bürgermeisterin sehe ich diese Entwicklung mit arger Besorgnis. Ja, auch im Rat der Gemeinde Weilerswist ist die AfD vertreten. Alle Fraktionen sitzen zusammen und stimmen zu einem Thema ab. Im Vorfeld werden alle Fraktionen seitens der Verwaltung und von mir ergänzend in der Fraktionsvorsitzenden-Runde zu Sachverhalten informiert. Das ist Zusammenarbeit auf Sachebene, Ziel: Vermittlung von Infos. Ich denke, entscheidend ist das Ziel, das der Zusammenarbeit zugrunde liegt. Kommen machtpolitische oder ideologische Ziele ins Spiel, ist die Zusammenarbeit mit der AfD von anderer Qualität und die lehne ich für meine Person kategorisch ab!