Liebe Schülerinnen und Schüler,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir sind heute zur Gedenkfeier anlässlich der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zusammengekommen. Wir gedenken der jüdischen Opfer des NS-Regimes.
Seit 1933 wurden die Juden, andere gesellschaftlichen Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, Menschen eben, die einem willkürlich festgelegten Idealbild nicht entsprachen oder dieses hinterfragten, in Deutschland in einer sich steigernden Folge diskriminiert, diffamiert und ausgegrenzt. Der Pogrom war ein Umbruch in eine Verfolgung der Juden von bis dahin nicht gekannter Brutalität. Das spürten die Juden, alle die mit ihnen lebten, die gesamte deutsche Gesellschaft. Wir treffen uns hier jedes Jahr zur Gedenkfeier mit dem Blick zurück als Erben der Deutschen Geschichte, aber auch mit dem Blick als Zeitzeugen im Hier und Jetzt und als mündige Mitglieder einer Demokratischen Gesellschaft.
Was rechtfertigt den Angriff und die Verfolgung von Menschen, die anders sind und anders denken?
Intoleranz und Angst vor dem Anderssein, Ausgrenzung, Hass und Machtstreben sind Ursache und Rechtfertigung.
Unsere Großeltern und teilweise unsere Eltern erlebten den Pogrom gegen die Juden als Zeitzeugen. Doch auch wir sind Zeitzeugen für Angriff und Verfolgung von Menschen, hier bei uns in Deutschland und weltweit:
Wir erleben heute in Deutschland Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus durch einzelne Personen oder Gruppierungen in seiner ganzen Bandbreite, von an Wänden geschmierte Symbolen und Parolen bis hin zu Brandstiftung und Mord.
Wir erleben in unserer europäischen Nachbarschaft seit Februar dieses Jahrs den Angriff auf das ukrainische Volk durch Russland.
In den Medien hören wir von der Verfolgung und Unterdrückung der Uiguren in China. In der Autonomieregion Xinjiang wurden nach Einschätzung von Experten bis zu 2 Mio. Uiguren in staatliche Umerziehungslager deportiert.
Seit September verfolgen wir die Meldungen zu den Protesten im Iran. Ausgelöst wurden sie nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod von Mahsa Amini in Teheran. Sie war von der islamischen Sittenpolizei festgenommen und misshandelt worden, weil angeblich ihr Kopftuch nicht richtig saß.
Und welche Rolle haben wir als mündige Bürger in einer Demokratie?
Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen fasste es so zusammen: -Zitat- Was „das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit“. Es reicht nicht, aus Distanz die sich wiederholenden Handlungs- und Denkmuster von aggressiven Rassisten, Fanatikern und Imperialisten zu erkennen und zu analysieren.
Entschlossenheit und Mut sind gefordert!
Mutig für seine Werte einzutreten und zu handeln heißt, die Komfortzone zu verlassen und auch Nachteile für die eigene Person in Kauf zu nehmen. Bei schrecklichen Krisen und Katastrophen wachsen viele über sich hinaus. Insbesondere nach dem Pogrom halfen viele Deutsche den verfolgten Menschen, versteckten sie oder halfen ihnen bei der Flucht und riskierten dabei ihr eigenes Leben. Dieses Hinschauen, anpacken und helfen ist unermesslich wichtig unter Freunden, in der Familie, in unserer Gesellschaft.
Das gilt auch aktuell für uns, nachdem wir Deutschen mit unseren europäischen Freunden und anderen Partnern Stellung gegen den Überfall der Ukraine durch Russland bezogen haben. Dass wir über uns hinauswachsen können, haben wir im vergangenen Jahr bewiesen. In der Nacht der Flut und den Tagen und Wochen danach erlebten wir eine Hilfsbereitschaft bis zur völligen Erschöpfung unter Freunden und Familien, unter Nachbarn und von Menschen weit über die Ortsgrenzen hinaus. Religion, Alter, Hautfarbe und Herkunft waren egal. Nehmen wir dieses Gefühl des friedlichen Miteinanders mit in den Alltag. Das macht uns stark.
Bleiben wir aufmerksam, wenn Menschen in Not sind. Sei es Not, hervorgerufen durch eine Naturkatastrophe, oder Not, hervorgerufen durch Intoleranz und Ausgrenzung.
Hevenu Shalom Alechem – Wir wollen Frieden für alle.
Bild: Claudia Roberz